Interview von Dominique Caillat mit Timothy Rearden
(in Israel & Palästina, Zeitschrift für Dialog, 2004)
Eigentlich wirkt die Situation ziemlich absurd…
Das hoffe ich sehr. Nicht nur, weil der Konflikt durchaus als absurd empfunden werden kann, sondern auch, um Theatralik und Komik in das Stück einzubringen. Das halte ich für absolut notwendig. Sonst hätte ich auch einen Vortrag halten können! Aber wir sind da, um unser Publikum zu fesseln und zu unterhalten, um ihm einen Blick in die Tragik und Komik des Lebens zu geben, die im Nahen Osten, unter vielen anderen Schauplätzen der Welt, in großem Maße vorhanden ist. Sami, Lev und auch die in „Midlife-Krise“ steckende Anna sind sehr menschliche Clowns, die zwischen den Welten stehen. Sie sind an die Situation nicht angepaßt, sind eigentlich fehl am Platz und benehmen sich „daneben“, was immer ein Aspekt der Komik ist.
Wie palästinensisch bzw. israelisch sind Sami und Lev?
Nicht sehr! Aber wer ist schon typisch palästinensisch, israelisch oder deutsch? Mit nur drei Charakteren ist es unmöglich, die ganze Skala der jeweiligen Gesellschaften mit ihren unzähligen Schichten zu beschreiben. Das ist wieder ein Vorteil des frühen Todes der Protagonisten: Als Gestorbene können sie sich erlauben, weniger logisch oder planmäßig zu handeln. Sie sind vielseitiger als in ihrem irdischen Leben. Das war mir eine große Hilfe. Ich brauchte nicht, irgendwelche Stereotypen zu erfinden, die ihr Volk symbolisch darstellen – das wäre furchtbar gewesen. Nein, Sami und Lev sind Außenseiter, wie ich sie eigentlich auf beiden Seiten kennen gelernt habe – und insofern sind sie nicht komplett untypisch!
Warum haben Sie eine frühe Freundschaft zwischen Anna, Lev und Sami erfunden? Ist das nicht ein bißchen unglaubhaft?
Erstens bezieht sich das auf ein persönliches Erlebnis. Ich wuchs in Paris auf und ging dort in die Schule. Jahrelang hatte ich einen ägyptischen Jungen in meiner Klasse, mit dem ich gut befreundet war. 1967, als der „Sechs-Tage-Krieg“ ausbrach, verschwand er. Uns wurde gesagt, wir sollten uns keine Sorgen machen, er hätte Probleme zu Hause und würde bald zurückkommen. Das tat er aber nicht. Statt dessen kam 1968 ein Israeli in meine Klasse! Er hat mich ziemlich fasziniert, weil er ein ganz anderes Leben geführt hatte, in einem Kibbuz. Er brachte mir etwas Hebräisch bei. Diese Freundschaft wurde bald durch den Umzug meiner Familie unterbrochen. Ich empfand meine Abreise von Paris 1969 (ich war 13 Jahre alt) als das Ende meiner Kindheit, die in meiner Erinnerung mit dem Verschwinden und Erscheinen der beiden Jungen verbunden ist.
Auch für Israel und die Palästinenser ist 1967 ein verhängnisvolles Jahr, weil der unglaubliche Sieg Israels, der die Existenz des jüdischen Staates ein für allemal zu sichern schien, leider auch den Anfang der Besatzung bedeutete, was man im Nachhinein als tragischen Fehler betrachten kann.
Zweitens wollte ich kein typisches „Friedensstück“ schreiben, wo Feinde sich auf der Bühne treffen, sich auseinandersetzen und sich schließlich lieben! Das ist mir wirklich zu lebensfremd und doof. Die gegensätzliche Situation ist viel interessanter, nämlich, dass Freunde durch die politischen Ereignisse womöglich auseinander gerissen werden.
Schließlich finde ich, dass die Sehnsucht nach einer als „heil“ empfundenen Vergangenheit ein wichtiges Leitmotiv in Israel, Palästina, Deutschland, ja sogar für jeden Menschen ist. Die Palästinenser schauen auf eine Zeit, in der es noch kein Israel gab. Die Israelis erinnern sich an 1967, als sie noch als Inbegriff des ewigen Opfers der Weltgeschichte galten und als siegende „Underdogs“ bewundert wurden. Die Deutschen sehnen sich nach einer Zeit vor dem Dritten Reich, durch den sie zum Inbegriff des Bösen wurden.
Sie erwähnen mehrmals im Stück, dass die Israelis stark und reich sind.
Im Vergleich zu den Palästinensern sind sie es auch. Allerdings sagt Lev, dass die Israelis an ihre eigene Kraft nicht glauben. Ich hatte das Glück, mich mehrmals mit Avi Primor, dem ehemaligen Botschafter Israels, über die Lage in seinem Land zu unterhalten. Er sagte mir: „Eigentlich sind wir Samsons, die im Dunkel Angst haben. Wir sind Katzen, die sich vor den Mäusen fürchten. Das ist ein fester Bestandteil unserer Psychologie. Präsident Sadat verstand das gut. Er sprach das israelische Volk direkt an, in der Knesset, aber auch durch die Medien. Er sagte: ‚Ich komme, um euch Sicherheit anzubieten. Das ist mein Ziel: eure Sicherheit!’ Natürlich war die Sicherheit der Israelis die letzte Sorge von Sadat, aber er hat es gesagt und wir glaubten ihm. Nur so konnte er jeden Zentimeter seines Landes zurückbekommen. Es ist eine Schande, dass jemand wie Arafat, so was gar nicht versteht. Die Palästinenser müssen uns Sicherheit schenken, das ist der einzige Weg zum Frieden“.
Samis geliebte Kusine Najwa und ihr Bruder Hassan (Figuren, die man nicht sieht aber trotzdem hört), beide aus Jenin, sprechen sich anscheinend gegen die wilde Gewalt aus und besonders gegen die Terroranschläge in israelischen Städten. Sie befürworten aber wohl den bewaffneten Widerstand gegen die israelischen Soldaten. Ist das Ihre eigene Meinung?
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, über den Widerstand meine ich. Ich kam nach Israel als überzeugte Pazifistin, die alle Gewalt ablehnt und Versöhnung zwischen allen Menschen anstrebt. Das ist so eine angenehme, klare Stellung! In den besetzten Gebieten wurde ich aber Zeugin von Gewalt und Willkür ohne Ende. Während ich dort war, gab es den großen Angriff auf das Rafah Flüchtlingslager. Außerdem wurden fast jeden Tag Menschen in Gaza und in der West Bank getötet, darunter viele Zivilisten. Häuser wurden zerstört, meistens mit ihrem ganzen Inhalt. Einige Male wurden sogar ältere Menschen aus Versehen unter den Trümmern vergraben. Das muss man verstehen, um die Reaktionen der Palästinenser besser nachzuvollziehen. Im Laufe meines Besuchs traf ich einen prominenten Psychiater aus Gaza, Dr. Eyad Sarraj, der die Traumata der Zivilbevölkerung, besonders der Kinder, behandelt. Er sagte mir: „Sie müssen verstehen, dass 99% der Kinder Zeuge von Schießereien und Verhaftungen gewesen sind. Ein Großteil hat zugesehen, wie jemand zu Tode erschossen wurde. Viele waren zu Hause, als die Soldaten mit Planierraupen kamen, um alles zu zerstören. Meistens haben sie knapp 10 Minuten gehabt, um die Sachen zu holen, die sie retten wollten. Manchmal aber ging alles so schnell, dass die Familie eine Wand selbst mit Hämmern zerstörte, um Flucht vor den Planierraupen zu ergreifen. Mehrere ihrer Verwandten, vielleicht ihr eigener Vater oder ein Bruder, sitzen im Gefängnis. In einer solchen Situation leiden die Kinder, aber auch die Erwachsene unter ständiger Angst, wenn nicht Panik. Das ergibt ein Gefühl der absoluten Unsicherheit. Sie werden depressiv, haben Alpträume, Kopfschmerzen und leiden unter schweren psychosomatischen Streß-Syndromen. Der einzige Weg, solche Angst zu überwinden, ist anzugreifen. Wenn ein Junge einen Stein auf einen Panzer wirft, überwindet er seine Angst, er beherrscht wieder seine Gefühle, ja sein ganzes Leben. Dieser Widerstand macht ihn stolz, er kann jetzt in Würde weiterleben. Der bewaffnete Widerstand der Militanten hat denselben Zweck, er unterstützt die psychische Verfassung der Bevölkerung. Auch die Palästinenser wollen nicht „wie die Schafe aufs Schafott gehen“: Zugegeben, es gibt keinen Vergleich zwischen den Umständen des Holocausts und denen, die hier herrschen, aber es gibt psychologische Parallelen. Die Soldaten besetzen illegal unser Land und führen gewalttätige Operationen gegen die ganze Bevölkerung: Wir haben das Recht und auch die Pflicht, uns zu verteidigen. Wie gesagt, das ist auch eine Frage des geistigen Überlebens.“
Inzwischen kann ich diese Auffassung nachvollziehen. In der Tat, warum dürften ausgerechnet die Palästinenser keinen Widerstand leisten? Haben wir nicht Widerständler bei uns und in der ganzen Welt immer wieder unterstützt und bewundert, wenn sie gegen eine illegale Besatzung oder gegen eine Diktatur kämpften? Haben Zivilisten nicht das Recht, sich gegen eine feindliche Armee zu wehren?
Mir fällt das alles sehr schwer, da die meisten meiner israelischen Freunde Kinder in der Armee haben. Einige (wenige) der Kinder dagegen, sitzen im Knast, weil sie den Dienst verweigern. In Israel ist das eine sehr schwierige, mutige Entscheidung, die gegen den Strom geht. Langsam verbreitet sich aber die Bewegung der sogenannten „Refuzeniks“.
Stimmt es, dass die meisten Dialoge im Stück auf wahren Ereignissen beruhen?
Ja. Natürlich dramatisiert Kidnapping nur ein winziges Prozent meiner Erlebnisse. Ich musste mich sehr stark bremsen, um kein 10-stündiges Stück zu konzipieren! Darum habe ich auch ein Tagebuch meiner Recherchen geschrieben. Ich hoffe, es wird bald veröffentlicht.
Aber selbst in den Szenen, wo es in „Kidnapping“ nicht so sehr auf die Politik ankommt, bezieht sich der Text stark auf meine Lebenserfahrungen, besonders Kindheitserinnerungen aus Paris. Der Drugstore der Champs-Elysées, die Hamburger und Banana-Splits, der Jardin du Luxembourg, das alles ist Teil von mir. Auch Levs Wunsch, dass die Welt aufhört, liegt mir sehr nah. Ich erinnere mich gut, dass ich eines Tages, als ich ungefähr acht Jahre alt war, plötzlich ein Gefühl des vollkommenen Glücks bekam. Alles, aber auch alles stimmte in meinem Leben. Ich ging zu meinem Vater, der wie üblich im Wohnzimmer saß, umgeben von zehn Zeitungen und sieben Büchern. Ich sagte: „Papa, ich möchte immer acht sein, und du sollst immer 46 sein, und Maman 37 und Patrice und Christian sollten auch nicht älter werden. Kann die Welt nicht jetzt direkt einfrieren?“ Im Gegensatz zu meinen Kameraden, war ich überhaupt nicht daran interessiert, erwachsen zu werden. Während alle von Selbstständigkeit, Heirat, tollen Jobs und weiß Gott was träumten, blieb ich zielstrebig und leidenschaftlich ein Kind. Die Welt der Erwachsenen erschien mir streng und unheimlich.
In Kidnapping ist diese Nostalgie der Kindheit sehr präsent. Ich habe deswegen Schauspieler ausgesucht, die jünger sind als ihre Rollen (die Figuren sind 45, die Schauspieler in ihren frühen dreißigen), denn Anna, Sami und Lev sollten eine gewisse jugendliche Ausstrahlung und Dynamik behalten haben.
Sind Anna, Lev und Sami denn kindisch?
Nein, nein, keineswegs: Sie sind nur nicht ganz verkalkt! Sie können noch staunen, improvisieren und das Unerwartete, das Unverständliche einfach hinnehmen. Eigentlich würde das Stück mit älteren Schauspielern auch funktionieren – Hauptsache, sie sind ungefähr gleichaltrig. Schließlich wurde ich selbst irgendwann erwachsen. Damals ärgerte es mich maßlos, jünger als mein Alter auszusehen: Ich wollte endlich, dass man mich ernst nimmt. In der jetzigen Phase meines Lebens ist das etwas jüngere Aussehen aber zum definitiven Vorteil geworden…
Ich danke Ihnen.
(Oktober 2004)