Interview von Dominique Caillat mit Timothy Rearden
(in Israel & Palästina, Zeitschrift für Dialog, 2004)
Sie scheinen aber die Ein-Staat-Lösung nicht für ernsthaft zu halten, habe ich recht?
Sie ist eine tolle Zukunftsvision: Warum nicht alle zusammen tanzen? Aber im Augenblick gibt es einfach zu viel Hass zwischen den Parteien. Zu viel Blut wurde vergossen. Heilung und Versöhnung brauchen Zeit. Außerdem glaube ich, dass eine solche Fusion nur dann Sinn hätte, wenn beide Gesellschaften ähnliche Strukturen und Lebensweisen, eine vergleichbare wirtschaftliche Entwicklung und ähnliche politische Werte hätten. Das ist meiner Meinung nach alles noch nicht vorhanden.
Schauen Sie, die israelische Gesellschaft ist absolut westlich orientiert: Selbst wenn sie mediterraneische Züge hat, bleibt sie unserer eigenen Gesellschaft sehr ähnlich. Für mich ist es überhaupt kein Problem dort zu leben: Ich fühle mich, wie zu Hause. Die politische Lage ist zwar sehr schlecht, aber das Leben selbst verläuft nach bekannten Mustern, womöglich mit mehr Dynamik und Flexibilität. Es ist eine ausgesprochen aktive westliche Zivilgesellschaft. Auf der palästinensischen Seite ist das anders. Dort gibt es natürlich jede Menge Leute, besonders in den städtischen Eliten – Intellektuelle, Anwälte, Ärzte, Universitätsprofessoren, Künstler, sogar einige Politiker! –, die uns sehr nahe sind, ja kaum zu unterscheiden von Männern und Frauen in Paris, Berlin oder Tel Aviv. Aber ein Großteil der Bevölkerung lebt in einer Welt, die man schön und anziehend finden kann, wie ich es tue, aber die uns fremd bleibt.
Es fängt natürlich bei den Frauen an, die in dieser stark patriarchalischen Gesellschaft eine untergeordnete Stellung haben: Zwangsehen, Verhüllung, massenhafte Kinderproduktion, ein isoliertes Leben daheim, ganz zu Dienste der Männer, Mordstrafe auf Ehebruch, etc.
Es geht weiter mit dem Klansystem. Der Klan ist etwas, wovon wir im Grunde genommen keine Ahnung haben, die aber den Alltag und die Politik in Palästina so sehr prägt, dass eine Demokratie in unserem Sinne kaum vorstellbar ist. Ich finde nicht, dass es uns zusteht, zu entscheiden, ob dieses fremde System gut oder schlecht ist. Manche Aspekte mögen uns abstoßen, wie zum Beispiel die schon erwähnte Behandlung der Frauen und die allgemeine Gewaltakzeptanz. Aber das Klansystem hat seine Vorteile. Die große israelische Journalistin Amira Hass schrieb in August 2004 einen interessanten Artikel im Haaretz: Sie wunderte sich nämlich, dass in den palästinensischen Städten, trotz des Zusammenbruchs der Wirtschaft, trotz der Auflösung der „Regierung“, trotz der internen Machtkämpfe zwischen verschiedenen Strömungen (um sie nicht „Gangs“ zu nennen), trotz der durch die Besatzung verursachten Armut und der bis 60-prozentigen Arbeitslosigkeit, die eigentliche Ordnung noch nicht zerstört sei. Bei uns würden solche Umstände ein komplettes Chaos verursachen, mit hoher Kriminalität und dem Ende der Moral. Aber in Nablus brauchen die Bewohner nach wie vor, ihre Eingangstür nicht abzuschließen, jeder wird auf irgendeine Weise versorgt und zwar nicht nur durch internationale Hilfe sondern dank dem Klan, der die seinen beschützt. Wollen wir diese bestehende Ordnung im Namen der Demokratie wirklich zerstören?
Vor allem aber gibt es, wie gesagt, einfach zu viel Hass. Die jungen Palästinenser kennen Israel nur durch seine Besatzungsarmee. Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Generationen: Palästinenser über 35 sind nicht so radikal. Die meisten sprechen Hebräisch, hatten mal israelische Freunde, arbeiteten oft in Israel bis zum Beginn der 2. Intifada im Jahre 2000.
In den jetzigen Umständen würde eine Zusammenkunft beider Bevölkerungen zwangsläufig zur Dominierung einer Gruppe durch die andere kommen. Welche diese sein würde ist fraglich: Die Palästinenser, weil sie bald eine demographische Mehrheit besäßen? Oder die Israelis, weil sie stärker und reicher sind? Ich tippe auf die Letzteren. Doch bald würden die Unterdrückten sich wahrscheinlich wieder mit Gewalt durchsetzen wollen…
Sie erwähnen die Gewaltakzeptanz unter den Palästinensern. Ist das wirklich so prägnant?
Ja und Nein. Eigentlich empfinde ich die israelische Gesellschaft als grundsätzlich eher „Macho“ und aggressiv als die palästinensische. Das hat wahrscheinlich mit der Geschichte zu tun, mit dem Konflikt, der Stellung als ständiger Besatzer sowie mit dem Status der Armee. Die Israelis halten viel vom „stark sein“. Man will ja nie wieder „wie die Schafe aufs Schafott gehen“. Und teilweise haben sie recht: Ohne die Erfolge der IDF gäbe es Israel heute nicht.
Die Palästinenser wirken meist etwas sanfter und müder als ihre Gegner, sehr höflich und unglaublich gastfreundlich. Zu den Machtdemonstrationen mit vielem Schießen in der Luft, feurigen Reden und eingehüllten Köpfen, wie man sie im Fernsehen so gerne zeigt, gehört eine gewisse Theatralik: Das ist das Bedürfnis des Schwächeren, die Zeichen der Macht vorzuzeigen. Trotzdem ist die Gesellschaft stark patriarchalisch und das geltende Gesetz ist das Gesetz des Stärkeren. Man greift schnell zu Einschüchterungsmitteln, die uns barbarisch erscheinen mögen.
Hier eine triviale Anekdote, die die Lage illustriert: Eine Bekannte von mir aus Beit Sahour, die ihr Leben lang als allein erziehende Mutter in Deutschland lebte, kehrte kürzlich in ihr Geburtsdorf zurück, um dort glücklich im Alter unter den ihren zu weilen. Sie zog alleine in ihr sehr schönes Haus und damit fingen ihre Probleme an. Das Haus erweckte Neid unter den unzähligen Verwandten (die Hälfte des Dorfes gehört ja ihrem Klan). Darüber hinaus war es inakzeptabel für ihre Verwandten, dass sie als Frau ganz allein zu wohnen wagte. Es gab ständigen Druck, irgendwelche Onkel bei ihr einziehen zu lassen aber sie weigerte sich. Schließlich gab es schrecklichen Ärger darüber, dass sie von Morgens bis zum Abends, für alle sichtbar, Männerarbeit verrichtete, bzw. ununterbrochen in ihrem Garten tätig war und Tiere versorgte. Als ich sie kennen lernte hatte sie gerade die ersten Repressalien der Familie zu spüren bekommen: Eines Tages fand sie ihren Hund vor der Tür – er war mit Chlor vergiftet worden. Eine Woche später passierte das Gleiche mit der Katze, die ähnlich grausam getötet wurde. Jetzt hat sie nur noch ein paar Kaninchen und Hühner. Ob die überleben werden? Den Regeln nach sollte sie jetzt um den Schutz eines Vetters bitten, der dann die Tiere des verdächtigen Tiermörders umbringen würde. Und so weiter bis in die Ewigkeit, oder bis eine der Parteien sich förmlich entschuldigt, was automatisch ein Ende des Streites bedeutet. Aber Elisabeth bevorzugt eine andere Lösung: das Auswandern nach Australien.
Ich wollte eigentlich vom Terror reden. Ist es nicht so, dass die Operationen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten, mit ihrer Gewalt, Willkürlichkeit und steigendem Vandalismus, den Terror verursachen?
Ein wachsender Teil der palästinensischen Bevölkerung scheint der Meinung zu sein, dass die Anschläge auf Zivilisten in Israel konterproduktiv sind. Sie glauben generell, dass es ein strategischer Irrtum gewesen ist, die aktuelle (sogenannte „zweite“ oder „Al Aqsa“) Intifada zu militarisieren. Die Reaktion der Israelis, die sich verteidigen wollten, war brutal und hat das Leben der Palästinenser fast zum Stillstand gebracht. Die pazifistische israelische Bewegung wurde ohnmächtig gemacht. Die Befürworter des großen Israels und alle Extremisten bekamen freie Hand.
Ein Großteil des palästinensischen Volkes hat aber keine moralischen Hemmungen in Bezug auf die Selbstmordanschläge. Die Ablehnung ist nur politisch. Die Hauptargumente sind immer: „Sie töten unsere Kinder, wir töten die ihren“ und „wir haben keine Panzer oder Raketen, was bleibt uns denn übrig?
Ich persönlich sehe keine Entschuldigung für die Attentate auf Zivilisten. Absolut keine. Sie sind für mich grundsätzlich unmoralisch und grausam: Ich lehne sie ab.
Man darf sich trotzdem Gedanken machen, warum sie zustande kommen. Ich bin durchaus ihrer Meinung, wenn Sie sagen, dass die Aktionen der IDF Hass und Verzweiflung in Palästina erzeugen und dass extremistische Gruppierungen es gut verstehen, diesen Hass und diese Verzweiflung zu instrumentalisieren, um ihren Machtkampf zu unterstützen. Es stimmt, dass unzählige Kinder und sonstige Zivilisten durch Operationen der Israelischen Armee getötet worden sind. Es stimmt auch, dass die israelische Armee, wie jede Besatzungsarmee, wachsende Brutalität und Willkür ausübt. Besatzung korrumpiert. Ich glaube, der Terror wird weiter gehen, solange die Israelis mit allen Siedlern nicht aus den Gebieten ausziehen. Er wird auch den Frieden, falls dieser gelingt, weiter vergiften, aber in kleinerem Maß, weil es lange dauern wird, bis man die fanatischen Elemente der Gesellschaft unter Kontrolle hat.
Und was ist der Einfluß der Religion?
Der Islam hat noch keine Aufklärung gehabt. Genau wie das orthodoxe Judentum. Viele einzelne Muslime und orthodoxe Juden mögen selbst aufgeklärt sein, aber nicht die Religionen selbst, die alle Reformen ablehnen und nur zurück zum Ursprung, zu den Grund-Texten wollen. Sie haben den Schritt in die Modernität noch nicht geschafft: Das wird irgendwann in der Zukunft geschehen. Denn es gibt zu viel Unterschied zwischen den Geboten des Korans oder der Bibel und dem Alltag im 21. Jahrhundert. Das machen die Gläubigen irgendwann nicht mehr mit.
Zum Einfluß der Religion auf die Situation, beziehe ich mich gern auf Karl Marx, dessen bekannte Äußerung so oft falsch zitiert wird. Die genauen Worte lauten: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“
Religion ist in meinen Augen nicht nur das, aber manchmal auch das! Und in Palästina trifft diese Erklärung genau zu.
Die Ausnutzung des religiösen Glaubens, um politische Macht zu erzielen, ist eine altbekannte Geschichte. Wenn Gott im Spiel ist, gibt es keine Kompromisse. Gott ist absolut. Das ist das Gefährliche an ihn, falls er in die Politik einbezogen wird.
Noch was: In Europa sind wir auf Dinge wie das Kopftuch absolut fixiert. Ich bin auch kein großer „Fan“ davon aber in Palästina hatte ich den Eindruck, dass viele Frauen, inklusive gebildete Frauen, Intellektuelle, das Kopftuch tragen und ihre Religion zielstrebig praktizieren, weil es ihre Identität stärkt. Es ist Krieg, die anderen sind die dekadenten Westler und wir unterscheiden uns von ihnen durch unser Aussehen und unsere Lebensweise. Das hat mit Identität im Krieg (und im „Kulturkampf“) zu tun. Irgendwie ist das Kopftuch sowohl ein Zeichen der Unterdrückung wie auch der Emanzipation. Das ist ein typischer nahöstlicher Widerspruch!
Zurück zu Kidnapping: Sie haben zwei ihrer Protagonisten, Sami und Lev, gleich nach fünf Minuten getötet. Warum?
Es gibt mehrere Gründe dafür. Erstens fand ich es notwendig, irgendwie den Terror im Stück zu behandeln, denn er ist eines der bedeutendsten Elemente des Konfliktes. Die Frage war: Wann sollte der Anschlag in Kidnapping stattfinden? Hätte ich ihn ans Ende gelegt, dann würde das Stück unter einem unerträglichen Pathos leiden. Das wäre ein grausames Ende, weil das Publikum, nachdem es die Opfer zwei Stunden lang begleitet hätte, sie kennen und mögen würde. Es würde alle Hoffnung zerstören und die positiven Aussagen im Stück außer Kraft setzen. Das wollte ich nicht, denn ich bin eine Optimistin. Irgendwann werden diese Leute müde sein, sich gegenseitig zu töten. Das ist immer so. Die zweite Lösung wäre gewesen, den Anschlag irgendwo in der Mitte zu planen. Aber das wäre noch schlimmer! Das hätte das Stück quasi torpediert, denn es hätte nur noch vom Terror gehandelt: Man konnte die Sache nicht kommentarlos stehen lassen. Es hätte keinen Raum gegeben, um andere Aspekte des Konfliktes zu verarbeiten. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, den Anschlag ganz am Anfang einzufügen und ich habe außerdem das Stück ganz auf die Protagonisten fokussiert, nicht auf die Hinterbliebene. Dadurch vermeide ich die unerträgliche Trauer, die man so schlecht auf der Bühne darstellen kann. Sami und Lev sind zwar verirrt, sie wissen nicht genau, wo sie sind und wohin sie sollen, aber sie sind nicht besonders traurig. Ihre Gedanken weilen nur gelegentlich bei ihren Familien.