franzoesischdeutschenglisch

Darwins Beichte

<< zurück

Im darwinistischen Universum
Dominique Caillat

Darwin. Jäger von Mistkäfern, Schneckenbeobachter und Taubenzüchter, hervorragender Vater und Ehemann, Respektsperson für die lokale Bevölkerung, unendlich liebenswürdig und sanft, häuslich aus Überzeugung, mit den Kindern auf den Knien blickt er durchs Mikroskop. Er bestäubt seine Pflanzen mit Mehl, um die Fußabdrücke der Insekten zu studieren. Er begeistert sich für das eigenartige Sexualverhalten der Krustentiere, bei denen die Weibchen, als schwangere Zwitter, zahlreiche an ihren Bäuchen festgekrallte Männchen mit sich herumtragen. Seereisender in jungen Jahren, visionärer Forscher, leidenschaftlich und selbstbewusst, enorm methodisch: Alles, was er sieht, denkt oder erprobt, wird dokumentiert. Er plant den endgültigen Sieg seiner Ideen so, wie ein General eine Schlacht vorbereitet, in dauerndem Briefkontakt mit Informanten rund um den Globus. Und schließlich: ein Nonkonformist aus einer Nonkonformisten-Familie
(sein Großvater diente als Vorbild für die Romanfigur Frankenstein), der dennoch verzweifelt die Anerkennung der Konformisten sucht. Ein tatsächlich kranker Hypochonder. Ein von Angst Geplagter, der notorisch schlecht schläft und Albträume hat, die er in seinem Notizbuch festhält.
Am 23. April 1851 wird in Malvern ein Albtraum wahr. Unglücklicherweise hat er Annie, seine geliebte zehnjährige Tochter, in diesen Kurort geschickt. Kaum von einer Grippe und von Scharlach genesen und wahrscheinlich tuberkulös, übersteht sie eine Schockbehandlung mit Eiswasser nicht und stirbt nach einer einwöchigen Leidenszeit, während der ihr Vater Tag und Nacht an ihrer Seite gewacht hat. Der
Schicksalsschlag ist schrecklich, Darwin bricht zusammen. In seinen Gedanken herrscht ein Durcheinander. Zärtliche Erinnerungen, Schuldgefühle, Empörung und vor allem das skandalträchtige Geheimnis, das ihn seit mehr als zwölf Jahren zerfrisst: das Geheimnis der Entstehung der Erde und der Evolution der Arten. Keineswegs auf wunderbare Weise und in endgültiger Form von Gott geschaffen, haben sie sich langsam im Zusammenspiel von Zufall und Naturgesetzen entwickelt.
Eine Gotteslästerung! Er wagt es nicht, der Welt seine Theorie darzulegen, weil er ebenso fürchtet, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, wie ihm vor der Zurückweisung und dem politischen Missbrauch seiner Ideen graut. Aber an diesem 23. April ändert sich alles: Gott verlässt Darwin und vice versa. Er entsagt dem Christentum, wird Agnostiker (er wird sich nie den Atheisten anschließen) und setzt einen Prozess in Gang, der acht Jahre später in der Publikation des Buches mündet, welches das Selbstbild des Menschen und das Bild der Welt, in der er lebt, radikal verändert. Die Tür zu genetischen Experimenten und zur Verwirklichung der «Brave New World» steht weit offen: Wir nähern uns einer verblüffenden Welt, die von genetisch verbesserten Übermenschen, Klonen, Chimären und intelligenten Maschinen bevölkert ist. Die Menschheit hat die Verantwortung für die Evolution
des Lebens übernommen!
2008. Ich stürze mich in das darwinistische Universum. Rund um mich biologische, philosophische und ethische Abhandlungen – und natürlich die Bibel. Axel Kahn, Dawkins, Spinoza, Bergson, der große Ricœur: Ich entdecke sie als begeisterter Laie, sammle überall, was ich zu verstehen glaube, und in meinem Kopf entsteht ebenfalls ein Durcheinander, da es eine unerwartete Überschneidung gibt. Mein
Vater, Träger einer Hälfte meines Genoms, kämpft während Wochen gegen die Krankheit und das Altern und verstirbt. In diesem Gefühlschaos entsteht «Darwins Beichte», ein Text sowohl über Empörung als auch über Entdeckung. Gegenüber dem Tod verliert das Leben zuerst seinen ganzen Sinn, und dann erhält es ihn wieder. Nämlich den Sinn, den man dem Leben gibt. Der Tod, das ist auch die Emanzipation der Überlebenden.

Ich schreibe zuerst einen langen Monolog Darwins, der beichtet und phantasiert, stets unterstützt von seinem bevorzugten Medikament Opium. In seiner Erinnerung ersteht Annie wieder auf. Ihr gegenüber – vielleicht dank ihr – kann er seine Furcht äußern und besiegen. Seine Ängste materialisieren sich in einem bizarren Wesen, das wie Frankensteins Monster Opfer und Täter in einem ist. Ich verspüre den Drang, zwei Gehilfinnen hinzuzufügen, eine etwas ahnungslose junge Frau (die Autorin des Stückes) und eine alte exzentrische Biologin, Gefährten auf meinem Zickzackkurs auf der Suche nach dem Weshalb und dem Wie des Lebens. Unter ihren staunenden Augen versucht Darwin-Prometheus-Frankenstein-Jekyll-Hyde seine inneren Monster zu zähmen und entscheidet sich für die Erkenntnis und gegen die Vorurteile.
nach oben
<< zurück